Wie stark beeinflussen Kläranlagen unsere Fließgewässer wirklich? Eine neue Studie aus Hessen zeigt: Nicht alle Bäche reagieren gleich. Während viele Gewässer dank funktioneller Redundanz kaum messbare Veränderungen aufweisen, zeigen besonders artenreiche und von Eintags-, Stein- und Köcherfliegen (EPT) dominierte Bäche deutliche funktionelle Verschiebungen unterhalb von Kläranlageneinleitungen. Damit wird klar: Die Empfindlichkeit eines Bachs hängt entscheidend vom ökologischen Ausgangszustand ab.
Wie wurde untersucht? – Hessisches Monitoring als Grundlage
Für die Studie wurden umfangreiche Monitoring-Daten des Hessischen Landesamts für Naturschutz, Umwelt und Geologie ausgewertet. Insgesamt analysierte das Forschungsteam 338 Makrozoobenthos-Gemeinschaften ober- und unterhalb von 169 Kläranlagenstandorten in ganz Hessen. Die Datengrundlage basiert auf standardisierten Erhebungen im Rahmen der EU-Wasserrahmenrichtlinie zwischen 2006 und 2018 und umfasst Gewässer im Rhein-, Main- und Wesereinzugsgebiet.
Die Forschenden berechneten funktionale Diversitätskennzahlen und Durchschnittswerte der Artenmerkmale für viele ökologische Eigenschaften – darunter Reproduktion, Lebenszyklus, Mobilität, Atemmechanismen und Ernährung. Besonderes Augenmerk lag auf jenen Gewässern, deren Biozönosen von sensiblen EPT-Arten geprägt sind.
Zentrale Ergebnisse – die entscheidenden Unterschiede stecken im Detail
- Kaum funktionale Veränderungen im Gesamtdatensatz: Betrachtet man alle 169 Gewässer gemeinsam, zeigen sich nur geringe Unterschiede zwischen ober- und unterhalb der Kläranlagen. Funktionelle Redundanz wirkt offenbar ausgleichend.
- Deutliche Effekte in EPT-dominierten Bächen: In diesen ökologisch sensiblen Gewässern wurden klare Verschiebungen in Reproduktion, Ernährung und Mobilität sichtbar.
- Wer kann Stress besser kompensieren: Zunahme von Arten die Vorteile bei erhöhter Nährstofflast oder Sauerstoffschwankungen haben.
- Rückgang sensibler Merkmale: Weniger Arten mit hohen Reproduktionsraten, aktiver Ausbreitung über die Luft oder Aufwuchsfresser – typische EPT-Merkmale.
Die Studie zeigt, dass breit angelegte Datensätze funktionelle Veränderungen „überdecken“ können – erst die fokussierte Analyse sensibler Gewässer offenbart die tatsächliche Reaktion auf Abwassereinleitungen.
Was bedeutet das für Hessens Wasserzukunft?
Die Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig es ist, ökologisch wertvolle Gewässer priorisiert zu betrachten. Gerade Bäche mit hohen EPT-Anteilen übernehmen zentrale Funktionen für Gewässernetzwerke, Biodiversität und Stoffkreisläufe. Zugleich sind sie aber empfindlich gegenüber veränderten Nährstoff- und Strömungsregimen, wie sie unterhalb vieler Kläranlagen auftreten.
Für Hessen heißt das:
- Monitoring-Programme sollten funktionale Merkmale stärker berücksichtigen, um potenzielle Veränderungen in der Funktionsweise von Gewässergemeinschaften zu erfassen.
- Kläranlageneinleitungen müssen kontextabhängig bewertet werden: Der gleiche Eintrag kann in einem Gewässer, das bereits durch tolerante Arten besiedelt wird, folgenlos sein, in einem ökologisch sensiblen Gewässer jedoch deutliche Auswirkungen haben.
- Die Studie zeigt das Potenzial der Betrachtung von ökologischen Merkmalen als Ergänzung zur klassischen Gewässerbewertung.
„Die Studie zeigt, dass es nicht nur auf die Belastung ankommt, sondern auf den Zustand, in dem ein Gewässer der Belastung begegnet,“ sagt Dr. Jonas Jourdan von der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Mitglied im KWH. „Für die Praxis bedeutet das, dass vor allem kleine Bäche und Oberläufe mit empfindlichen Artgemeinschaften vorrangig vor Schadstoffeinträgen geschützt werden sollten.“
Weitere Informationen
Die vollständige Studie „Stream baseline conditions shape functional responses to wastewater: Evidence from insect-dominated sites“ ist online verfügbar.
