Ein interdisziplinäres Forschungsteam liefert neue Hinweise, wie stark Mischungen aus Mikroverunreinigungen die ökologische Gesundheit von Fließgewässern beeinträchtigen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, der Goethe-Universität sowie weiterer Institutionen arbeiteten zusammen, um das neue Verfahren zu testen. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz wurden erstmals für über 500 Stoffe chronische Toxizitäten vorhergesagt und mit dem Zustand von Makrozoobenthos-Gemeinschaften verknüpft. Das Ergebnis: Chemische Belastungen erklären einen erheblichen Anteil der ökologischen Beeinträchtigungen – deutlich mehr, als klassische Bewertungsansätze erkennen lassen.
Innovativer Ansatz zur Bewertung von Schadstoffeffekten
Die Studie untersuchte Daten aus über 200 Monitoringstationen in Deutschland. Für 559 häufig nachgewiesene Mikroschadstoffe wurde mittels des KI-Modells TRIDENT die chronische Toxizität vorhergesagt. Anschließend wurden die Stoffe nach ihrer Gefährlichkeit gruppiert und mit den an denselben Stellen erfassten Makroinvertebraten-Daten verknüpft.
Zwei Bewertungsansätze wurden miteinander verglichen:
- Einzelstoff-Ansatz – Betrachtung nur des giftigsten Stoffes einer Probe
- Mischungs-Ansatz – parallele Betrachtung der Toxizität verschiedener Stoffgruppen
Der Mischungsansatz erklärte fast doppelt so viel der beobachteten ökologischen Veränderungen wie der Einzelstoff-Ansatz. Zusätzlich konnten vier Substanzen identifiziert werden, die besonders häufig den höchsten chemischen Druck im Gewässer auslösten.
Zentrale Ergebnisse der Studie
- Mischungen sind entscheidend: Eine Betrachtung einzelner Stoffe unterschätzt die tatsächliche Belastung deutlich.
- Vier Substanzen als Indikatoren: Valsartan, Metazachlor ESA, DEHP und 4-Acetamidoantipyrin traten besonders häufig als treibende Belastungsfaktoren auf.
- Sowohl Punkt- als auch diffuse Einträge relevant: Neben Einträgen aus Kläranlagen spielt insbesondere der Eintrag von Pestizidmetaboliten aus der Landwirtschaft eine große Rolle.
- Chemische Belastungen wirken schon bei niedrigen Konzentrationen: In vielen Fällen lagen die Stoffkonzentrationen weit unterhalb der Bewertungsschwellen – dennoch waren deutliche ökologische Auswirkungen erkennbar.
- KI-gestützte Toxizitätsprognosen bieten Mehrwert: Die Vorhersagen verbessern das Verständnis über Wirkmechanismen und die Bedeutung verschiedener Stoffgruppen und Mischungen.
Bedeutung für Hessens Wasserzukunft
Die Ergebnisse unterstreichen, dass das Erreichen eines guten ökologischen Zustands gemäß Wasserrahmenrichtlinie nicht ohne eine deutliche Reduktion von Mikroschadstoffen möglich ist. In Hessen, wo Flüsse und Bäche aufgrund dichter Besiedlung, intensiver Landwirtschaft und vielfältiger Nutzungspfade besonders belastet sind, liefert die Studie wichtige Hinweise:
- Kläranlagen sind zentrale Stellschrauben: Zwei der vier identifizierten Indikatorstoffe stammen überwiegend aus kommunalem Abwasser. Dies bestätigt den Bedarf an vierten Reinigungsstufen und weiterentwickelten Abwasserbehandlungskonzepten.
- Diffuse Einträge ernst nehmen: Der Pestizidmetabolit Metazachlor ESA zeigt, wie stark landwirtschaftliche Stoffeinträge wirken – auch wenn Hauptbelastungsspitzen in Routineproben häufig nicht erfasst werden.
- Monitoring weiterentwickeln: Die identifizierten Indikatorstoffe können künftig helfen, Belastungen effizienter zu erfassen und Maßnahmen gezielt anzusetzen.
„Unsere Studie zeigt deutlich: Mikroschadstoffe sind keine Randerscheinung, sondern ein zentraler Stressfaktor für unsere Fließgewässer. Nur wenn wir sowohl Punktquellen als auch diffuse Einträge konsequent angehen können wir den ökologischen Zustand unserer Bäche und Flüsse nachhaltig verbessern.“ Verdeutlicht apl. Prof. Dr. Andrea Sundermann von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Sprecherin der AG Gewässerökologie im Kompetenzzentrum Wasser Hessen.
Die Entwicklung neuer Bewertungsansätze und Maßnahmen unterstützt Kompetenzzentrum Wasser Hessen besonders und nutzt dabei seine Schnittstellenfunktion zwischen Forschung und Praxis gezielt.
Link zur Studie
Die vollständige Publikation “Linking micropollutant mixtures and macroinvertebrate ecological health using AI-based toxicity predictions“ ist online zugänglich.
Beteiligte Institutionen
- Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung – Flussökosystem-Management
- Goethe-Universität Frankfurt am Main – Institut für Ökologie, Evolution und Diversität
- Goethe-Universität Frankfurt am Main – Abteilung Evolutionsökologie und Umwelttoxikologie
- LOEWE-Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik (LOEWE-TBG)
- Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME
- Kompetenzzentrum Wasser Hessen
